Der Anatom hat das letzte Wort

Der Anatom hat das letzte Wort

Sachverhalt:

Gemäß Durchgangsarztberichtes erlitt eine 75jährige Klägerin einen Wegeunfall mit dem Fahrrad und war bei angelegtem Arm auf die rechte Schulter gestürzt. Die ärztliche Erstversorgung erfolgte am Unfalltag im beklagten Krankenhaus. Klinisch fand sich ein druckschmerzhaftes Hämatom über einer tastbaren Stufe im mittleren Drittel des rechten Schlüsselbeins. Das rechte Schultergelenk war schonhaltungsbedingt nicht durchbeweglich.

In den Röntgenaufnahmen wurde die dislozierte Fraktur in Schaftmitte nachgewiesen.

Periphere Sensibilitäts- oder Durchblutungsstörungen wurden nicht dokumentiert.

Der rechte Schultergürtel wurde mit einem Gilchrist - Verband ruhiggestellt und eine Woche später erfolgte im erstbehandelnden Krankenhaus bei drohender Perforation eine offene Reposition der instabilen Fraktur und eine Osteosynthese mit einer winkelstabilen Platte.

Postoperativ klagte die Patientin über Sensibilitätsstörungen am rechten Mittel-, Ring- und Kleinfinger, eine blasse rechte Hand sowie Schmerzen und eine Schwellung des Handrückens.

Die Kernspintomografie der HWS drei Tage nach der Operation blieb unauffällig, ein Hämatom konnte ausgeschlossen werden. Eine Woche nach dem Eingriff traten lang anhaltende Schmerzattacken im rechten Arm auf. Eine Hämatomschwellung im Operationsbereich wurde nicht nachgewiesen. Die periphere Sensibilität und Durchblutung waren weiterhin intakt.

In der neurologischen Untersuchung zehn Tage nach der Operation wurde eine inkomplette untere Armplexusparese diagnostiziert. Zwei Wochen nach dem Primäreingriff erfolgte in einer anderen Klinik eine operative Revision. Wegen einer traumatischen Erweiterung der Arteria subclavia (Aneurysma spurium) wurde die rechte Klavikula entfernt und eine Gefäßprothese implantiert. Ausweislich des Operationsberichtes war das pulsierende faustgroße Hämatom mit dem umgebenen Gewebe derart verbacken, dass eine Abgrenzung und Darstellung nur nach Entfernung des Schlüsselbeins möglich war.

Postoperativ wurde drei Tage später die verbliebene inkomplette untere Plexusläsion neurologisch bestätigt.

Es kam nach 1 ½ Jahren zu einem Verschluss des Protheseninterponates. Eine operative Revision lehnte die Patientin ab.

Beanstandungen der ärztlichen Maßnahmen:

Es wird darauf verwiesen, dass die Klägerin nach der Osteosynthese der Klavikulafraktur täglich, mit zunehmender Tendenz, über ein Taubheitsgefühl in den Fingern, eine unnormal weiße Haut der rechten Hand und eine Schwellung des Handrückens geklagt hätte. Die Schmerzen hätten zugenommen und seien unerträglich gewesen. Die Beschwerden seien von den Ärzten im Krankenhaus nicht ansatzweise ernst genommen worden.

Der Patientin sei von den Ärzten zu einer Operation geraten worden, weil es keine Alternative gegeben hätte. Gleich nach der Operation hätte die Patientin über drei taube Finger geklagt.

In engem Zusammenhang mit den Komplikationen der ersten Operation und den traumatischen Erlebnissen seien eine posttraumatische Belastungsstörung und eine depressive Episode diagnostiziert worden.

Bei der Operation sei auch der Zwerchfellnerv geschädigt worden.

 

Stellungnahme erstbehandelndes Krankenhaus:

Auf den Vorwurf fehlerhaften Handelns wurde mit einer eigenen Darstellung des Sachverhaltes reagiert. Behandlungsfehler wurden in Abrede gestellt.

Die Ärzte verweisen auf das deutliche posttraumatische Hämatom über dem rechten Schlüsselbein bei der Erstuntersuchung. Im Rahmen der BG - Sprechstunde sei ausführlich über ein operatives oder konservatives Vorgehen gesprochen worden. Die Klägerin hätte sich für das operative Vorgehen entschieden.

Die Wahrscheinlichkeit einer Arrodierung der Arteria subclavia durch eine überlange Schraube könne durch das Design der Schraube ausgeschlossen werden. Der Konus der winkelstabilen und vor allem selbstschneidenen Schraube habe eine Länge von 2 mm, so dass diese Schrauben regelhaft etwas über die Knochenkante hinausstünden.
Nach Ausmessen des Röntgenbildes läge die Schraube nach lateral weiter entfernt vom anatomischen Verlauf der Arteria subclavia.

Der operative Eingriff sei ausweislich des vorliegenden Operationsberichtes unauffällig verlaufen. Über ein Taubheitsgefühl in den Fingern der rechten Hand (D3 bis D5) hätte die Patientin am ersten postoperativen Tag geklagt. Auf die Beschwerdesymptomatik sei zu jeder Zeit reagiert worden. Am ersten postoperativen Tag habe es keine Probleme gegeben. Die postoperative Beschwerdesymptomatik sei aufgrund der neurologischen Ausfälle und der immer tastbaren Pulse nicht eindeutig gewesen.

Für das festgestellte Aneurysma spurium ließe sich im Nachhinein keine Ursache finden. Sowohl bei dem Unfall selber und durch die dislozierte Fraktur als auch durch die operativen Maßnahmen hätte es zu einer kleinen Verletzung an der Arteria subclavia kommen können. Dieses Aneurysma habe sich sehr langsam während der zu überblickenden Zeit entwickelt und sei zumindest in der ersten postoperativen Woche nicht feststellbar gewesen.

Unfallchirurgisches Gutachten:

Der von uns beauftragte Gutachter, Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie, hat nach Darstellung des Sachverhaltes folgende Kernaussagen getroffen:

Bei der patientenseits beanstandeten Behandlung sei seinerzeit gegen geltende Standards verstoßen worden. Es habe wegen einer knöchernen Verletzung des rechten Schlüsselbeins eine Indikation für einen operativen Eingriff bestanden.

Der Eingriff am 07.07.2017 sei nicht fachgerecht erfolgt.

Eine Schraube sei deutlich zu lang gewählt worden, wodurch es zu einer Affektion der Arteria subclavia mit Ausbildung eines Aneurysma spurium gekommen sei.

Die Nachbehandlung sei korrekt gewesen.

Verbliebene Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen würden für eine fehlerhafte Primärversorgung sprechen. Der Fehler wäre bei sorgfältigem Vorgehen in der damaligen Situation vermeidbar gewesen.

Stellungnahmen zum Unfallchirurgischen Gutachten:

Er wird patientenseits darauf hingewiesen, dass die Nachbehandlung nicht korrekt erfolgt sei.

Ärztlicherseits wird wiederholt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Arrodierung der Arteria subclavia durch das Design der diskret überstehenden Schraube weitgehend ausgeschlossen werden könne. Nach Ausmessen des Röntgenbildes läge die Schraube nach lateral weiter entfernt vom anatomischen Verlauf der Arteria subclavia.

Ein anatomisches Gutachten sei anzufordern.

Die von der Patientin beklagte Beschwerdesymptomatik am rechten Schultergürtel sei ohne Zweifel auf die Revisionsoperation zurückzuführen, bei der es zur Verletzung des Nervus phrenicus auf der rechten Seite gekommen sei.

Anatomisches Gutachten:

Der von uns beauftragte Gutachter, Facharzt für Anatomie, hat nach Darstellung des Sachverhaltes folgende Kernaussagen getroffen:

Bei Kennzeichnung der kompletten Frakturlinie zeigte sich, dass das relativ spitz zulaufende Klavikulabruchstück (Abb. 1) im Bereich der Gefäß- Nervenstraße lag, wodurch eine Arrodierung bei Sturz oder bei Schulterbewegungen vor der Ruhigstellung nicht ausgeschlossen werden kann, im Sinne eines zeitverzögerten Auftretens eines Pseudoaneurysmas der Arteria subclavia.

Die vierte Schraube in der LC - Platte (Locking Compression Plate) von medial perforiert die Gegenkortikalis deutlich (Abb. 2) und liegt 5,25 cm vom Akromioklavikulagelenk (AC) und 8,25 cm vom Sternoklavikulagelenk (SC) entfernt.

Um die Topografie des Gefäß- Nervenbündels und die Lage der im Röntgenbild überstehenden Schraube in der Klavikula (Abb. 2) zur Arteria subclavia besser beurteilen zu können, erfolgte an einer unfixierten Leiche einer Körperspenderin eine Plattenosteosynthese der Klavikula entsprechend den am Röntgenbild ermittelten Angaben und die Präparation des Gefäß- Nervenbündels.



Es zeigte sich, dass die Gefäß- Nervenstraße zirka 5,5 -7,5 cm vom SC - Gelenk und etwa 7,0 -10,0 cm vom AC - Gelenk entfernt lag.

Nach Resektion des Musculus subclavius wird deutlich sichtbar, dass die Schraubenspitze sich 7,25 cm vom AC - Gelenk und 8,25 cm vom SC - Gelenk befindet und somit lateral der Vasa sublavia, die 5,5 - 7,5 cm vom SC - Gelenk entfernt unter dem Schaft der Klavikula hindurchziehen.

Die Schraube ist unterhalb der Klavicula sichtbar (Abb. 3), weil die Klavikula an dieser Stelle nur ca. 12 mm dick ist und eventuell der Winkel des Bohrlochs etwas anders lag. Auch könnte die Schraube etwas tiefer in das Bohrloch der Platte gerutscht sein.


Abb. 3

Zusammenfassend ist eine Arrodierung der Gefäße durch die auf dem Röntgenbild zu lang erscheinende Schraube eher unwahrscheinlich, weil die Schraube lateral der Gefäße platziert wurde. Allerdings würden die Bohrlöcher für die zweite und dritte Schraube über den Gefäß- Nervenstraße liegen (Abb.3). Es könne nicht beurteilt werden, ob die Eintauchtiefe des Bohrers lege artis war und ob beim Bohren oder beim Anlegen des Hohmann - Hebels die Gefäß- Nervenstraße verletzt wurde.

Die postoperative Beschwerdesymptomatik könne sowohl iatrogen wie auch durch die Fraktur selbst verursacht worden sein, da sich ein Pseudoaneurysma auch mehr oder weniger stark zeitverzögert nach dem Unfall, auch bei konservativer Therapie bzw. nach dem operativen Eingriff, ausbilden könne.

Hinsichtlich einer fehlerhaften Nachbehandlung stellten sich die Fragen, warum die
Patientin trotz anhaltender, sich verschlimmernder Beschwerden entlassen wurde, warum keine weitere Gefäßdiagnostik erfolgte und keine operative Revision der Gefäß-Nervenbündel durchgeführt wurde.

Stellungnahmen zum anatomischen Gutachten liegen nicht vor.

Bewertung der Haftungsfrage:

In Würdigung der medizinischen Dokumentation, der Stellungnahme der Beteiligten und der gutachterlichen Erwägungen gelangen wir unter eigener Urteilsbildung zu folgender Bewertung:

Wir können uns dem unfallchirurgischen Gutachten im Hinblick auf die Fehlerfrage nicht anschließen. Der Gutachter ging von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen aus, da ihm nicht alle entscheidungserheblichen Dokumente vorlagen.

Übereinstimmung besteht mit dem anatomischen Gutachten.

Bei der Erstdiagnostik wurden ein druckschmerzhaftes Hämatom über dem rechten Schlüsselbein und eine tastbare Stufe im mittleren Drittel nachgewiesen. Periphere Sensibilitäts- oder Durchblutungsstörungen wurden nicht dokumentiert.

Es bestand wegen der erheblichen Frakturdislokation und der drohenden Hautperforation eine absolute Indikation für einen operativen Eingriff, der fachgerecht und nach geltendem unfallchirurgischem Standard durchgeführt wurde.

Die Patientin wurde präoperativ über mögliche Komplikationen, insbesondere über Gefäßverletzungen, aufgeklärt.

In der intraoperativen röntgenologischen Stellungskontrolle in 2 Ebenen wurde eine sehr gute Lage der Platte und der eingebrachten Schrauben dokumentiert.

Die im Röntgenbild zu lang erscheinende Schraube liegt ausweislich des anatomischen Gutachtens lateral der Gefäß- Nervenstraße. In diesem heißt es weiter:

„Es ist nicht auszuschließen, dass Form und Lage des lateralen Frakturschaftes eine Verletzung des Gefäß-Nervenbündels verursacht haben und es kann nicht bewiesen werden, dass für die medialen Schrauben die Eintauchtiefe bohrtechnisch fehlerhaft erfolgte und zu einer Verletzung der Arteria subclavia geführt hat. Ein Pseudoaneurysma kann sich posttraumatisch zeitverzögert ausbilden“.

Hinsichtlich der im anatomischen Gutachten aufgeworfenen Fragen zu den postoperativen Beschwerden ist festzustellen, dass auf sie mit diagnostischen Maßnahmen reagiert wurde. Die Schädigung des Nervus phrenicus ist nicht durch den Primäreingriff verursacht worden.

Wir halten gesetzliche oder vertragliche Schadensersatzansprüche nicht für gegeben und sehen somit keine Möglichkeit, der Gegenseite einen außergerichtlichen Regulierungsvorschlag zu unterbreiten.

Fazit:

Penetrierende Verletzungen der Arteria subclavia gehören bei der offenen Reposition und Osteosynthese einer Klavikulafraktur zu den eher seltenen, jedoch sehr ernsten Komplikationen.

Um das Risiko einer iatrogenen Schädigung des Gefäß- Nervenbündels durch überlange Schrauben zu vermeiden wird die Anwendung einer monokortikal besetzten 6 Loch LC - Platte mit Kopfverriegelungsschrauben empfohlen, bei der es zu einer übungsstabilen Frakturversorgung kommt, ohne eine Schraubenpenetration über die Gegenkortikalis hinaus.

Dr. med. M. Schönberger
Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie,
Handchirurgie, Skelettradiologie

Ch. Wohlers, Rechtsanwältin

Prof. Dr. med. A. Schmiedl
Institut für Funktionelle und Angewandte Anatomie
Medizinische Hochschule Hannover

Literatur:

Bain, GI et al.: Axillary artery pseudoaneurysm after plate osteosynthesis for a  clavicle nonunion A case report and literature review; Int J Shoulder Surg, 2010: 79 - 82

Clitherow, HD et al.: Association between screw prominence and vascular complications after clavicle fixation; Int. J Shoulder Surg 2014: 122 - 126

Ding, M et al.: Iatrogenic subclavian arteriovenous fistula: rare complication of plate Osteosynthesis of clavicle fracture Ortheopedics; 2012: 287 - 289

Parry JA et al.: Screws are at a safe distance from critical structures after superior plate fixation of clavicle fractures Eur J Orthop Surg Traumatol; 2019: 227 - 230

Wagner , M. et al.: Locking Compression Plate (LCP): Ein neuer AO - Standard Op-Journal 2000; 16: 238 - 243

Zurück